Eindrücke aus China

Es waren nur 12 Tage, die ich diesmal in China verbracht habe und doch waren es der Eindrücke so vieler, dass ich mich hier nur auf die Taiji-relevanten beschränken versuche.

Die erste Etappe meines Aufenthaltes habe ich in Chengdu verbracht. Der eigentliche Grund für meine Reise war ja auch die Teilnahme an einem Kongress über Komplementärmedizin (siehe vorherigen Bericht), aber natürlich wollte ich auch etwas von der Stadt sehen und vor allem auch ein bisschen in die Taiji-Szene reinschnuppern. Ich wollte es wissen und habe mich gleich am Tag nach meiner Ankunft um 6 Uhr in der Frühe auf den Weg in den „Renmin Gongyuan“ (= öffentlicher Volkspark der Stadt Chengdu) gemacht. Um diese Zeit waren die stolzen Strassen der grossen Stadt wenig befahren. Die Luft war frisch und vom nächtlichen Nieselregen gewaschen. Bald schon hat sich ein Taxifahrer bemerkbar gemacht, der mich dann auch für umgerechnet 1.50 vor die Eingangspforten der Parkanlage brachte. „Morgenstund hat Gold im Mund“ heisst es ja bei uns. Doch meine Annahme, dass dieses Sprichwort in China die gleiche oder sogar noch eine stärkere die Gültigkeit hat, hat sich – jedenfalls was Chengdu anbelangt – als gänzlich falsch herausgestellt. Zwar waren die Eingangstore schon offen, aber abgesehen von einigen Strassenfegern, welche sich emsig an die Arbeit machten, ein paar Geschäftsmänner, die schnellen Schrittes eine Abkürzung durch den Park genommen haben und einem verwundert-verschlafen dreinblickenden Ausländer war da von alten, weissbärtigen Taiji-Meistern mit luftiger Robe und Schar von Schülern keine Spuhr. Um 7 Uhr trudelten vereinzelt die ersten Leute mit ihren Vogelkäfigen, Federballschlägern und Wasserkalligraphie – Equipment ein. Hie und da konnte man in einer ruhigen Park-Ecke die ersten Leute ihre Aufwärmübungen machen.  Eine Stunde später aber kamen dann die Parkbesucher in kleinen Grüppchen, welche sich dann so um 9 Uhr zu grösseren Gruppen formierten. Auf einem Platz wurden Volkstänze geübt, auf einem anderen Federball mit erstaunlichem Können gespielt. Taiji wurde ebenfalls von kleineren und grösseren Gruppen in den vielfältigsten Variationen und Formen geübt. Am häufigsten bin ich Übenden der Handform begegnet. Ebenfalls beliebt scheint bei den Leuten in Chengdu das Taiji-Schwert und der Fächer zu sein. Der Stock hingegen weniger. Auch wenn unterschiedliche Stile und Formen im engsten Raum lautstark nebeneinander geübt wurde, so hatte doch alles seinen Entfaltungsraum. Im ersten Moment war mir der Anblick von Taiji-Lehrern mit Headset und Mikrofon, wie sie mit ihrer technischen Ausrüstung das laute Trällern der Volksmusik zu übertönen versuchten und ihre Gruppen mit lautstarken Komandos wie „Kranich öffnet die Flügel!!!“  durch die Form lotsten überraschend und befremdlich. So etwas in der Schweiz wäre undenkbar! In China aber scheint dem Neben- und Miteinander von Klassik und Moderne nichts im Wege zu stehen, sofern es zweckdienlich ist.


Mit Lili, einer Taiji-Lehrerin und pensionierten Englischlehrerin bin ich ins Gespräch gekommen und schwupsdiwups, keine zwei Minuten sind vergangen und prompt bin ich ganz unvermittelt in einen Taiji-Crashkurs für Anfänger aufgenommen worden. Ohne die Gelegenheit zu haben, sie über meine Vorkenntnisse zu informieren, habe ich mich da reinziehen lassen und habe einfach mal mitgemacht. Gespannt habe ich beobachtet und mit meinem Körper gelauscht, wie sie mich wo korrigierte – war sehr aufschlussreich 😉  Im Anschluss an die Lektion haben wir uns dann auch noch etwas über Taiji, und das Leben in Chengdu bzw. Schweiz unterhalten. Ich war sehr überrascht zu erfahren, dass sie a) schon 50 Jahre alt war und b) seit 2 Jahren bereits pensioniert war. Sie meinte dann auch, dass es vor allem die älteren Leute seien, die dem Taiji Zeit und Interesse entgegenbringen. Die Jungen hätten für die langsamen Bewegungen keine Zeit. Das war auch mein Eindruck. Diejenigen die im Park zum Taiji-Üben kamen, die hatten wirklich Zeit … ja sogar Zeit zum Telefonieren während dem Taiji-üben! Taiji, wie ich es hier beobachten und erleben durfte, hat vorrangig eine gesundheitsgymnastische und soziale Bedeutung. Man trifft sich im Park, tut was zusammen für die Gesundheit und hat eine gute Zeit. Wer sich für innere Aspekte der Introspektion und Kampfkunst interessiert, für den lohnt sich ein Blick in die entlegeneren Ecken und Winkeln des Parkes. Alles in allem bot mir der Parkbesuch einen spannenden Einblick in die Bewegungsvielfalt!

Meine zweite Reiseetappe führte mich in die Berge von Sichuan, wo ich zusammen mit meiner Arbeitskollegin Sabine einen mehrtägigen Ausflug in zwei Naturreservate unternommen habe. Unterwegs waren wir da mit einem Tourguide und einem Fahrer, der uns z.T. mit 100 km/h die Passstrassen hoch und runter beförderte. Während der mehrstündigen Hinfahrt gab es hie und da wieder mal eine WC-Pause um einmal „für Harmonie“ zu gehen – was ich immer noch nicht so recht verstehe, warum unsere Reiseleiterin diese Ausdrucksweise benutzt, die weder im Deutschen, Englischen noch im Chinesischen üblich ist, scheinbar aber bei ausländischen Touris auf Gefallen stösst. Anyway, die „Harmonie-Pausen“ habe für mich aktiv genutzt und meine Aufwärmübungen (Beine abstreifen etc.) und die 5-Losenings‘ gemacht. Diese einfachen aber sehr wirksamen Übungen habe ich während diesen 12 Tagen, wo ich so viel sitzend unterwegs war, wieder einmal mehr zu schätzen gelernt! Die vorbeifahrenden Chinesen haben zwar etwas verwundert aus ihren Autos geschaut, ich war aber voll in den Übungen drinn … und kennen tat mich dort ja sowieso keiner 😉 Den plötzlichen Höhenanstieg von 500 auf 4000 m.ü.M. hab ich dann schon recht deutlich zu spüren gekriegt, was aber auch wieder eine gute Übungsgelegenheit für die tiefe Bauchatmung war. Die Tage in der weiten Natur waren ein starker Kontrast zum Leben in der Grossstadt und waren sehr wohltuend. Eindrücklich war die Tiefe, Klarheit und Ruhe der Bergseen in Jiuzhaigou (=Tal der neun Tibetischen Dörfer). Die Kalkablagerungen haben den Seen dort eine einzigartige Eisvogel-blaue Farbe verliehen. Beeindruckt hat mich, dass unabhängig von Regen oder Sonnenschein, die Farbe und Wirkung der Berseen beständig blieb.

Meine dritte und letzte Etappe führte mich in den Norden China’s nach Beijing und Shijiazhuang, wo ich bei Freunden zu Besuch war. Lizhuang, der Dozent für Psychologie an der Hebei Normal University ist, hat mich da gleich zu einem Gastvortrag für die dortigen Studenten eingeladen. Da hab ich mir einen Ruck gegeben und beschlossen den Vortrag über Taiji und Stressprävention, welchen ich in Chendu auf Englisch gehalten habe, dort auf Chinesisch zu präsentieren. 20 Minuten, damit habe ich gerechnet, woraus aber schlussendlich 2 Stunden wurden – noch nie hab ich so viel auf Chinesisch auf einmal erzählt! Das war ein Erlebnis! Gut 50 Studenten waren an ihrem freien Samstagnachmittag in den Unterrichtsraum gekommen, um dem Gastredner aus der Schweiz zuzuhören und danach vor allem viele Fragen zu stellen! Fragen, die weit über das angekündigte Thema hinaus gingen. So wollten die Studierenden erfahren, wie das Bildungssystem in der Schweiz aufgebaut ist, welche Berufschancen Psychologen nach ihrem Studium in der Schweiz haben, was mich persönlich damals zum Studium der Psychologie bewogen hat, wie ich auf Taiji gekommen bin etc. Es war ein sehr neugieriges Publikum welches seine Fragen offen und direkt stellte. Das hat mich etwas überrascht, fand es aber sehr sympathisch. So habe ich auch meine Antworten und Rückfragen ebenfalls auf die gleiche Weise gegeben resp. gestellt: offen und direkt. Offenbar war dies für die Studis auch recht ungewöhnlich aber ganz ok, und so kam es zu einem kreativ-angeregtem Austausch. Es wurde viel gelacht 🙂

In der Nacht darauf – wen wunderts – hab ich dann lauter Chinesischer Vokabeln und Zeichen geträumt. Obwohl mein Chinesisch während den letzten 5 Jahren bracher als brach lag, war ich selbst überrascht, wie schnell die dicke Staubschicht wieder weggefegt war! Wieviel doch eine entsprechende Umgebung dazu beitragen kann, Vergessenes wieder zum Vorschein zu bringen. In dieser und manch anderer Hinsicht waren die 12 Tage in China für mich ein sehr einprägsames Erlebnis.

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