„Gut Ding …

… will Weile haben“, so lehrt uns der Volksmund. Auch für Ma Yueliang, ein herausragender Taiji Meister des letzten Jahrhunderts, zählte „Beständigkeit“ (恒 = heng) zu einen der fünf Schlüsselqualitäten für ein gelingendes Üben. Doch Beständigkeit im Üben, was heisst das eigentlich? Immer wieder ertappe ich mich, wie ich meine Kursteilnehmende ermutige, eine regelmässige Übungspraxis aufzunehmen. Dabei tun sie das ja bereits. Sie kommen nämlich 1 x, manche sogar bis zu 4 x pro Woche ins Taiji-Training. Einige wenige schauen nur 1 x pro Monat oder noch seltener in die Taiji-Stunde rein. Das ist zwar nicht so viel, aber immer noch regelmässig. Warum rate ich dann immer wieder den Teilnehmenden ihre eigentlich bereits vorhandene regelmässige Übungspraxis noch weiter auf Zeiträume ausserhalb der Unterrichtszeiten auszudehnen? Wahrscheinlich aus meiner Erfahrung, dass durch das selbstständige Üben …

– das in der Stunde gelernte noch besser verinnerlicht und somit zu etwas Eigenem wird

– viele Fragen auftauchen, die für den eigenen Lernfortschritt förderlich sind

– die Freude an dem, was man alles schon gelernt hat, wächst

– die Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit zunimmt wird

– die Lerninhalte aus dem Kursraum heraus besser in den Alltag integriert werden

– man immer wieder Zeit für sich selbst nehmen und sich Gutes tun kann

Ist denn nun regelmässiges aber seltenes Üben schlecht? Ich finde nicht, denn es ist immer noch besser als gar kein Üben. Auch müssen die äusseren und inneren Gegebenheiten berücksichtigt werden, welche die Möglichkeiten und die Bereitschaft für ein regelmässiges Üben wesentlich mitgestalten.

Neulich musste ich an meine ersten Jahre mit Taiji zurückdenken. Ich hatte bereits die 37er Kurzform gelernt und wollte auch in der 108er Langform sattelfest werden. Ich erinnere mich gut, wie ich jedesmal nach der Doppellektion missmutig nach Hause kam, weil ich immer dieses frustrierende Gefühl vom „Treten an Ort uns Stelle“ hatte. Der Kurs war teuer, die Lehrer qualifiziert … doch im Unterricht vertieften sie sich immer wieder in Detailausführungen zu einzelnen Sequenzen, so dass die Stunde verflog, ohne dass ich die ganze Form – und durch sie auch mich selbst – in einem Bewegungsfluss erleben konnte. Nach einem halben Jahr bin ich aus dem Kurs ausgestiegen. Hätte ich zu Hause mehr üben sollen? Sehr wahrscheinlich schon … doch mit zunehmendem Frust und fehlenden Erfolgserlebnissen hatte ich auch einfach keine Lust mehr dazu. Die Geschichte geht aber noch weiter, …

2007 – Taiji Üben im Park

denn zum guten Glück gab es da den grossartigen Peter! Den gibt es im Übringen immer noch 🙂 Mit Peter zusammen habe ich vor vielen Jahren die Taiji Lehrer Ausbildung absolviert. Schon während unserer Ausbildungszeit haben wir uns regelmässig, was bei uns etwa +/- 1 mal pro Monat heisst, zum gemeinsamen Üben im schönen Rieterpark getroffen. Zugegeben, das ist zwar nicht viel, aber immerhin regelmässig und über all die Jahre hinweg bis heute beständig. Da Peter den Ablauf der 108er Form etwas besser kannte als ich, hatten wir uns jedesmal gemeinsam durch diese lange Taiji-Form irgendwie durchgewurstelt. Bei unklaren Stellen orientierten wir uns an den Ausführungen in Fachbüchern und später dann auch an Video-Aufnahmen, doch bei so grossen zeitlichen Abständen erwies sich bei uns beiden der Lerneffekt als eher marginal und nicht besonders nachhaltig. Habe ich zu Hause diese Taiji-Form geübt? Nein, das habe ich nicht … und ich kann auch gar nicht genau sagen, warum ich das nicht tat. War es denn vielleicht doch stimmig durch diese Langform ein paar mal im Jahr zusammen mit meinem Taiji-Kumpanen zu schwimmen? Das Unvollendete, Brachliegende kann ja auch seinen Reiz haben um Dranzubleiben – Ich erinnere mich gerade dabei, wie ich es als Kind geliebt habe auf Baustellen zu spielen, bis ich eines Tages dabei erwischt wurde … aber das ist dann eine andere Geschichte – Naja, jedenfalls dauerte diese Phase des Dranbleibens an der „Königin der Taiji-Formen“ in zwar regelmässigen, aber doch eher grossen zeitlichen Abständen über 10 Jahre. Trotz der grossen Abstände und der ziemlich flachen Lernkurve sind Peter und ich beständig drangeblieben. Darüber bin ich sehr, sehr froh und dankbar! Ohne dieses Dranbleiben hätte es sehr wahrscheinlich auch nicht den einen Tag gegeben, an welchem der Beschluss in mir heranreifte: „So, und ab heute wird die Langform zu meinem vorrangigen Übungsgefäss.“ Dieser Beschluss kam von tief Innen heraus und war dermassen klar und kraftvoll, dass es danach auch kein Zweifeln oder Ausweichen mehr gab. Ich war ready für die Langform! Mit viel Freude und Fokus übte ich mich in den darauffolgenden Tagen täglich im Ablauf der Choreografie. Wo ich nicht weiterkam, recherchierte ich in der Fachliteratur, studierte Videos und holte mir Rat bei anderen Taiji-Lehrern. Schon nach wenigen Tagen fühlte ich mich viel sicherer in den Bewegungen und in ihrer Reihenfolge, so dass die Form selbst immer mehr zu meiner Lehrerin wurde. Durch sie wurde ich zunehmend mit Inhalten und Übungsaspekten vertraut, die mir vorher im Taiji verborgen geblieben waren. Erst durch das eigene, fast tägliche Üben offenbarten sie sich mir nach und nach. Im Chinesischen gibt es eine treffende Redewendung, in der es heisst: „学成师到“.  Sinngemäss bedeutet das soviel wie: „Erst wenn der Schüler reif ist, tritt auch sein Lehrer in Erscheinung.“ … und bei mir war es dann die 108er Langform.

Reifeprozesse brauchen also ihre Zeit … aber auch ein gewisses Dranbleiben mit einer Art peripherer Aufmerksamkeit, damit der stimmige Zeitpunkt nicht verpasst wird … wie z.B. auch beim Brotbacken! Da gilt es ja auch das Brot nicht zu früh, aber auch nicht zu spät in den Ofen schieben und wieder herauszunehmen.
Fazit: Beständigkeit und Bekömmlichkeit ist eine feine Kombination! 🙂

 

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