Taiji und Qigong beim Bechterew – Mit achtsamer Bewegung zur vertikalen Ausrichtung

Erschienen in „vertical“ – der Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung Morbus Bechterew im November 2021.

Quellenangabe: Nedeljkovic, M. (2021) Taiji und Qigong beim Bechterew – Mit achtsamer Bewegung zur vertikalen Ausrichtung, vertical, 90, 4-17.

Für unser Wohlbefinden ist eine vertikale Ausrichtung von zentraler Bedeutung. Ist alles im Loht, dann ist alles gut. Das ist aber nicht immer der Fall. Kommen wir in eine Schieflage, tun wir gut daran, diese bei Zeiten wahrzunehmen und Wege zurück zu einer entspannten Balance und damit auch wieder zurück zur vertikalen Ausrichtung über der uns tragenden Grundlage zu finden. Zwei Wege, um unser Körperbewusstsein zu verbessern, sind die beiden Bewegungsformen Taiji und Qigong. Worum es sich dabei handelt, welche gesundheitsfördernde Wirkung ein regelmässiges Taiji und Qigong Training entfalten kann, welche Rolle dabei die vertikale Ausrichtung spielt und wie dies insbesondere für Menschen mit Morbus Bechterew von Nutzen sein kann, wird in diesem Schwerpunktartikel erörtert.

Taiji und Qigong – worum geht es dabei?

Wer schon einmal asiatische Länder bereist hat und dort einen Spaziergang durch einen Stadtpark unternommen, oder auch nur schon eine Dokumentationssendung über China geschaut hat, ist bestimmt schon einmal diesen langsamen, harmonisch fliessenden Bewegungsformen der einheimischen Parkbesucher begegnet. Meist in Gruppen finden sich diese bereits früh am Morgen an einem offenen Platz zusammen und beginnen gemeinsam den Tag mit meditativ anmutenden, ruhigen Bewegungsübungen. In der Gruppe still und synchron ausgeführt, mögen solche Bewegungen an das sanfte Wiegen eines Weizenfeldes im Wind, an das ruhige Mäandrieren eines Flusslaufes oder auch an die sich ständig wandelnden, gemächlich vorbeiziehenden Wolkenformationen am Himmel erinnern. Die beruhigende Wirkung dieser achtsamen Bewegungsweise ist selbst für den stillen aussenstehenden Beobachter oft spürbar. Diese beiden aus China stammenden Übungsformen haben viele Gemeinsamkeiten, wohl aber auch charakteristische Unterschiede.

Über Taiji

Taiji, das mancherorts auch als „Tai Chi“ oder auch „Taijiquan“ bezeichnet wird, hat seine Wurzeln in den chinesischen Kampfkünsten. Ursprünglich wurde Taiji nur in engsten Kreisen einzelner Familien-Clans sozusagen hinter verschlossenen Türen als eine besondere Form der Kampfkunst gelehrt. Dabei galt es nicht die harte, auf die eigene Anspannung basierte Muskelkraft zu trainieren, sondern eine achtsam entspannte, geschmeidig resiliente Bewegungsweise zu entwickeln, um sich so möglichst mühelos die Wirkkräfte aus der Umgebung zu Nutze zu machen. Auch heute noch zählen Achtsamkeit, Entspannung und Resilienz zu den wesentlichen Merkmalen von Taiji. Erst mit dem Fokus auf die Gesundheitsförderung verbreitete sich diese sanfte und zugleich kraftvolle Bewegungsform in der breiten Bevölkerung im asiatischen Kulturraum aus. Auch hierzulande entdecken immer mehr Menschen für sich die wohltuende Wirkung von Taiji auf Körper und Geist. Nicht umsonst heisst es in einem Chinesischen Sprichwort: „Wer regelmässig Tai Chi übt, wird geschmeidig wie ein Kind, kräftig wie ein Holzfäller und gelassen wie ein Weiser.“ Die Bedeutung der Schriftzeichen für „Taiji – 太極„ ist gar nicht so leicht ins Deutsche wiederzugeben, ohne dabei auch etwas über die Chinesische Betrachtungsweise zu sagen. Die Zeichen können mit „der höchste Grad“ oder auch mit „der Firstbalken“ übersetzt werden und beziehen sich auf ein Konzept aus dem philosophischen Daoismus. Dabei handelt es sich um ein harmonisches Zusammenwirken von einander entgegengesetzten, zugleich auch einander bedingenden und ergänzenden Qualitäten. So, wie der sinnbildliche Firstbalken die linke und die rechte, die Sonnen- und die Schattenseite eines Daches quasi als „höchster Grad“ miteinander verbindet, so fliessen auch im Taiji komplementäre Bewegungseigenschaften wie rund und gerade, leicht und schwer, weich und fest in der Bewegungsgestaltung zusammen. Durch das Yin-Yang Symbol wird dieses Prinzip des lebendig-runden Zusammenspiels von zwei polaren Wirkkräften besonders gut veranschaulicht.

Das Yin-Yang Symbol steht für das Zusammenspiel zweier polarer Wirkkräfte.

 

Im Verlaufe der Entwicklungsgeschichte von Taiji sind verschiedene Stile mit unterschiedlichen Schwerpunkten entstanden. Allen gemeinsam ist jedoch der Bezug zu den grundlegenden Bewegungsprinzipien, welche in den klassischen Lehrversen vergangener Taiji Meister überliefert wurden. Diesen zufolge soll der Körper möglichst entspannt, aufrecht ausgerichtet und gut geerdet sein. In Interaktion mit den auf ihn wirkenden Kräften soll er sich in seiner Ganzheit ausbalanciert von seiner Mitte aus möglichst mühelos bewegen lassen. Was sich in wenigen Sätzen verdichtet zusammenfassen lässt, darf als eine Einladung für eine längere innere Entdeckungsreise zu mehr Entspannung und Ausgeglichenheit aufgefasst werden. Je nach Schule und Stilrichtung kann ein Taiji-Training nebst lockernden Grundlagenübungen und den fliessend miteinander verbundenen Bewegungsabfolgen einer Solo-Form auch Partnerübungen und das Üben mit Gegenständen und Trainingswaffen beinhalten. In Anbetracht der grossen Vielfallt an Unterrichtsinhalten und auch -stilen, sei allen, die sich für Taiji interessieren und es gerne einmal ausprobieren möchten, der Besuch einer Schnupperstunde bei verschiedenen Anbietern empfohlen.

Über Qigong

Qigong, auch „Qi Gong“ oder „Chi Kung“ geschrieben, umfasst traditionelle Bewegungs-, Atem- und Meditationstechniken, welche sich in China unter daoistischen, buddhistischen und medizinischen Einflüssen über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt haben. Insbesondere die Theorien und Prinzipien der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) bilden im Qigong eine wichtige Grundlage. Zu diesen zählen unter anderem auch das bereits oben erläuterte Yin-Yang Prinzip der sich ergänzenden und ausgleichenden Polaritäten und die Lehre von den energetischen Leitbahnen, den sogenannten Meridianen, über welche alle Vitalpunkte in unserem Körper miteinander verbunden sind. Eine ausführliche Beschreibung der Zusammenhänge von Qigong und der TCM ist in der Vertical-Ausgabe Nr. 19/2004 nachzulesen. [1] Die ruhigen, sich wiederholenden Bewegungsabläufe im Qigong tragen zu innerer Entspannung und Ausgeglichenheit bei und begünstigen somit die Regeneration und den freien Fluss der Vitalkraft (auf Chinesisch „Qi“ = 氣, ausgesprochen „Tschi“) in unserem Körper. Ganz in diesem Sinne kann Qigong mit „Kultivierung der Vitalkraft“ übersetzt werden, wobei das Zeichen für „Gong“ = 功auch für „Arbeit“ und „Fertigkeit“ stehen kann. Das Üben von Qigong lässt sich sehr gut mit dem Bewirtschaften eines Reisfeldes vergleichen. Damit es eine reiche Ernte gibt, bedarf es eines bestellten Feldes, das ausreichend mit Wasser durchflutet wird. Aber auch die Arbeit eines tüchtigen und umsichtigen Bauers darf nicht fehlen. Dieser hält nicht nur die Bewässerungskanäle in Stand, sondern reguliert auch vor zu geschickt die optimale Wasserzufuhr. Die „Ernte“ ist als Sinnbild für unsere Gesundheit zu verstehen, das „Reisfeld“ steht für unseren Körper, das „Wasser“ für die nährende Vitalenergie, welche wir der Atemluft und der Nahrung entnehmen, die möglichst freien „Bewässerungskanäle“ für die durchlässig entspannte, unseren ganzen Körper durchziehende Verbundenheit, und der „Bauer“, der mit allem was er tut und lässt dem Wohlergehen seines Ackers Sorge trägt, das ist der achtsame Qigong-Praktizierende. Auch im Qigong gibt es eine grosse Vielfalt an Stilen und Übungsreihen. In vielen Übungsreihen steht die körperliche Beweglichkeit und Lockerheit im Vordergrund. Bei einigen hingegen wird der Fokus auf die inneren Bewegungen und Rhythmen des Körpers gerichtet, so dass von aussen betrachtet kaum Körperbewegungen auszumachen sind. In anderen wiederum wird der Stimmbildung oder auch der Resonanzerfahrung mit der Natur besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Was jedoch allen Qigong Formen gemeinsam ist, ist das Verbinden der drei wesentlichen Komponenten: Bewegung, Atmung und Meditation. Ob auf körperlicher, emotionaler oder geistiger Ebene, alle Formen von Qigong zielen auf einen Zustand des Entspannens und des Loslassens ab, welcher sich von Grund auf positiv auf unser Wohlbefinden auswirkt. Neben Übungen im Gehen und Stehen gibt es im Qigong auch Übungen im Sitzen und Liegen, so dass auch ältere, schwache oder kranke Menschen von der gesundheitsfördernden Wirkung dieser achtsamen Bewegungsform profitieren können.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Taiji und Qigong auf einen Blick

Beide Methoden werden heute überwiegend zur Gesundheitsförderung vermittelt. Im Taiji können auch Aspekte der Kampfkunst und Selbstverteidigung mitenthalten sein.

  • Für beide Methoden sind gelenksschonende, achtsame und überwiegend langsam ausgeführte Bewegungen charakteristisch. Während beim Qigong kürzere, sich wiederholende Bewegungsabläufe üblich sind, werden im Taiji umfangreichere zusammenhängende Bewegungsabfolgen erlernt, welche je nach Stilrichtung auch dynamische Bewegungssequenzen enthalten können.
  • Bei beiden Methoden sind körperliche Entspannung, strukturelle Ausrichtung, mentale Sammlung und Aufmerksamkeitslenkung von grundlegender Bedeutung. Im Taiji können diese zentralen Aspekte über das Solo-Training hinaus auch mittels Partnerübungen geschult werden, was im Qigong in der Regel nicht der Fall ist.
  • Bei beiden Methoden sind Konzepte der TCM wie komplementäre Polaritäten (Yin und Yang), 
Vitalenergie (Qi), Energiezentren, Leitbahnen (Meridiane) und deren Vitalpunkte vertreten. Bei Qigong stehen diese jedoch stärker im Vordergrund.
  • Beide Methoden haben ihren Ursprung in China. Während Taiji seine Wurzeln in den Kampfkünsten hat, gründet Qigong auf einer langen Tradition meditativer Gesundheitspraktiken. Hierzulande werden beide Bewegungsformen transkulturell und konfessionsneutral vermittelt.
  • Taiji-Lektionen beinhalten in der Regel immer auch Übungselemente aus dem Qigong. Umgekehrt werden in einigen Qigong-Übungsreihen auch einzelne typische Bewegungssequenzen aus dem Taiji entnommen und diese im Sinne einer Qigong-Übung vermittelt.

Gesundheitsfördernde Wirkung von Taiji und Qigong

Wie aus aktuellen wissenschaftlichen Übersichtsarbeiten hervorgeht, ist die Evidenzlage für Taiji und Qigong als zwei wirkungsvolle Massnahmen zur Förderung des Gleichgewichts und der Sturzprophylaxe besonders stark. Mittlerweile liegen auch einige randomisiert kontrollierte klinische Studien vor, deren Ergebnisse aufzeigen, dass Taiji und Qigong den Behandlungsverlauf bei Patienten mit Herz-Kreislauferkrankungen, Depressionen, chronisch obstruktiven Atemwegserkrankungen und Krebserkrankungen begünstigen. Auch bei Patienten nach einem Hirnschlag, bei Parkinson-Patienten, sowie auch bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen konnten infolge eines regelmässigen Taiji bzw. Qigong Trainings signifikante Symptomreduktionen verbunden mit einer deutlich Zunahme an Mobilität und Lebensqualität festgestellt werden. [2, 3] Neben dem breiten klinischen Wirkspektrum ist hervorzuheben, dass es sich bei Taiji und Qigong um zwei nichtinvasive, nebenwirkungsarme und die eigene Selbstwirksamkeit fördernde Bewegungsformen handelt, deren Potential im Bereich der Krankheitsprävention besonders gross ist. Dafür sprechen auch diverse Forschungsarbeiten, in welchen bei den untersuchten Taiji und Qigong Praktizierenden eine deutliche Verbesserung der Schlafqualität und eine signifikante Verminderung der psychischen und biologischen Stressreaktivität beobachtet wurden. [4]

Wie wirken Taiji und Qigong?

Ungleich wie bei einem Medikament, lässt sich die Wirkweise dieser beiden Bewegungsformen nicht über einen spezifischen Wirkstoff erklären. Vielmehr gründen die gesundheitsfördernden Effekte von Taiji und Qigong auf einer facettenreichen, synergistisch wirkenden Komponentenvielfalt. Diese beinhaltet nebst den Wirkfaktoren auf der muskuloskeletalen Ebene auch salutogene Aspekte der Atmung, der Achtsamkeit, der Vorstellungskraft, der Berührung, der sozialen Interaktion und des Trainingssettings. [5] So hat beispielsweise auf körperlicher Ebene die für Taiji und Qigong charakteristische langsame Bewegungsweise eine die Gelenke schonend mobilisierende und das Gleichgewicht fördernde Wirkung. Gleichzeitig entsteht durch das langsame Ausführen der Bewegungen ein grösserer Wahrnehmungsraum, in welchem die eigenen Körperempfindungen wie Muskel(ent)spannung, Gelenksdehnung und natürlich auch die vertikale Ausrichtung achtsam wahrgenommen und in einem immer freier werdenden Bewegungsfluss bewusst integriert werden können. Auch die Atmung wird durch diese entspannende Entschleunigung auf natürliche Art und Weise langsamer und tiefer. Nach und nach können sich so die Atembewegungen über den Brustkorb und den Unterbauch hinaus im ganzen Körper bemerkbar machen. Eine solche Atmung kann ihrerseits wiederum die Funktionsweise des vegetativen Nervensystems spannungsausgleichend unterstützen und infolge dessen wesentlich zur Optimierung von weiteren Vitalfunktionen wie zum Beispiel der Herztätigkeit, des Blutdrucks und der Thermoregulation beitragen. Im Taiji und Qigong verbinden die langsamen Körperbewegungen, zu welchen auch das Atmen zählt, Aktivität mit Entspannung und Entspannung mit Aktivität. Über die körperliche Ebene hinaus ist dies auch einer ausgeglichenen Gemütslage zuträglich, welche wiederum grundlegend für ein achtsameres Präsentsein im Augenblick ist. Typisch für den Taiji und Qigong Unterricht sind auch bildhafte Bewegungsanleitungen mit Metaphern aus der Natur wie z.B. bei der Benennung der einzelnen Bewegungssequenzen „Der Kranich lüftet seine Schwingen.“ oder „Die Hände lassen sich wie Wolken am Himmel bewegen“. Durch das Vergegenwärtigen und zunehmende Verkörpern von naturbezogenen Bewegungsqualitäten können nicht nur kraftvoll entspannte Resonanzerfahrungen entstehen, sondern auch das eigene Bewegungserleben kreativ bereichert und freudvoll angeregt werden. Berührung, als ein weiterer Wirkfaktor, kommt insbesondere im Qigong oft in Form von spannungslösender und durchblutungsfördernder Selbstmassage zur Geltung. Dabei werden gut erreichbare Vitalpunkte und Meridianverläufe abgeklopft, massiert und abgestreift. Bei den Taiji-Partnerübungen kann auf achtsame Art und Weise ein ergonomischer Umgang mit Zug- und Druckkräften geschult werden, wodurch nebst Beweglichkeit und Standsicherheit vor allem auch die Selbstwahrnehmung verbessert wird. Zusätzlich zu den bisher aufgeführten spezifischen Wirkkomponenten kommen im Taiji und Qigong, genau so wie dies auch bei anderen Bewegungsformen der Fall ist, auch unspezifische Wirkfaktoren zum Tragen. So können die eigene Erwartungshaltung, die in der Kursgruppe erfahrene soziale Unterstützung oder auch das angenehme Ambiente im Kursraum ebenfalls nicht nur zur Verbesserung des eigenen Wohlbefindens, sondern auch zur Entwicklung und Aufrechterhaltung einer regelmässigen Übungspraxis massgeblich beitragen. [5]

Die Bedeutung der vertikalen Ausrichtung im Taiji und Qigong

Die bei uns gängigen Redensarten wie „einsame Spitze“, „das Tüpfchen auf dem ‚i’ “ oder auch „Kopf hoch“ vergegenwärtigen, dass im westlichen Kulturraum die vertikale Ausrichtung hauptsächlich eine „Haupt-Sache“ ist, die mit einer Erweiterung nach oben hin assoziiert ist, denn „alles Gute kommt von oben“. Im Taiji und Qigong ist der Schwerpunkt etwas anders gelagert. Da geht es in erster Linie um die Ausdehnung nach unten. Indem der Erdanziehungskraft folgend durch den Körper hindurch nach unten hin entspannt wird, entsteht in den Füssen, den Beinen und im Becken ein gut geerdeter und tragender Bodenkontakt. Bleibt der Kopf dabei über dem Scheitelpunkt ruhig im Raum positioniert, so erfährt die Wirbelsäule durch die nach unten hin sich setzende Bewegung des Beckens eine passive Dehnung in vertikaler Ausrichtung. Treffend wird dies durch das erste Schriftzeichen von Taiji, dem Zeichen „Tai – 太“, dass mit „höchst, äusserst, mega“ übersetzt werden kann, veranschaulicht. Als Piktogramm betrachtet, stellt es einen Menschen (人 = Ren) dar, der gross ist (大 = Da) und sich, damit er über sich hinaus wachsen kann, nach unten hin mit der Erde verbindet (太 = Tai). In dem Masse, wie es uns gelingt alles Schwere, Angespannte und Belastende nach unten hin lösend setzen zu lassen, kann in der Folge auch ein entsprechender Entfaltungsraum für eine aufsteigende Leichtigkeit entstehen. Nicht umsonst heisst es den alten Meistern zufolge: „Wässere die Wurzeln und die Blüten und Früchte gedeihen von alleine.“ Dass das Schwere unten und das Leichte oben seinen Platz hat, darauf weist auch das erste Schriftzeichen von Qigong, das Zeichen für Vitalkraft „Qi – 氣“, hin. Mit der unteren Komponente für Reiss (米 = Mi) und der oberen Komponente für Luft (气 = Qi), stellt es als Piktogramm den aufsteigenden Dampf über einem Reisstopf dar, ein Wohlgeruch, der in die Nase steigt, den Appetit anregt und so manch Einem ganz spontan ein genüssliches „Mmmm!“ entlockt. Genau dann kann eine natürliche, sanft aufrollende Aufrichtung der Wirbelsäule gefolgt von einer mühelosen Weitung des Brustraumes und einem zufriedenen Lächeln im Gesicht beobachtet werden. Die vertikale Ausrichtung im Taiji und Qigong erfolgt stets durch ein Loslassen hin zum tragenden Boden. Von diesem aus können dann Stützkräfte durch einen durchlässig entspannten, ausbalancierten Köper wirkungsvoll hochsteigen. Fazit: Alles Gute kommt also nicht nur von oben sondern auch von unten.

 

Taiji und Qigong bei Morbus Bechterew

Ein erster Erfahrungsbericht zur symptomlindernden Wirkung von Taiji bei Morbus Bechterew wurde 1982 in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht. In diesem wird insbesondere die Bedeutung einer regelmässigen und kontinuierlichen Übungspraxis betont. Der Autor berichtete, dass er bei sich nach 6 monatigem Taiji-Training eine Zunahme an Muskelkraft, eine grössere Standsicherheit, eine verbesserte Entspannungsfähigkeit und Schlafqualität, eine Verminderung seines Blutdrucks, sowie eine graduelle Schmerzreduktion feststellte. Diese Veränderungen erlaubten es ihm seine Schmerzmedikation zu reduzieren. [6] Erst ganze 25 Jahre später wurde die erste und bisher einzige randomisiert kontrollierte klinische Studie über die Wirkung von Taiji bei Morbus Bechterew Betroffenen publiziert. Alle Studienteilnehmende hatten ihre übliche Behandlung während der Laufzeit der Studie fortgesetzt. Die Teilnehmenden in der Interventionsgruppe besuchten während zwei Monaten 2 x pro Woche einen Taiji-Kurs. Die zur Kontrollgruppe zugeteilten Personen wurden gebeten ihre bisherige Lebensweise möglichst unverändert weiterzuführen. Die Ergebnisse zeigten eine signifikante Verringerung der Krankheitsaktivität, im Sinne einer Abnahme von Müdigkeit, Gelenksschmerzen und Schmerzen in der Wirbelsäule, sowie einer kürzeren Dauer und geringeren Intensität der Morgensteifigkeit in der Taiji-Gruppe im Vergleich zur passiven Kontrollgruppe. Ausserdem ergaben Messungen zur Beweglichkeit der Wirbelsäule, dass diese bei den Taiji-Praktizierenden im Gruppenvergleich signifikant zugenommen hatte. Bezüglich Symptomlage zur Depressivität wurden keine Gruppenunterschiede festgestellt. [7] Die Wirkung von Qigong bei Morbus Bechterew Patienten wurde erstmals 2019 in einer randomisiert kontrollierten Studie dokumentiert. Teilnehmende der Interventionsgruppe besuchten während eines Monats 2 x pro Woche einen Qigong-Kurs und verpflichteten sich während den nachfolgenden zwei Monaten mindestens 3 x wöchentlich selbständig weiter zu üben. Im Vergleich zur passiven Kontrollgruppe konnte bei der Qigong-Gruppe eine signifikante Abnahme von Müdigkeit, sowie eine signifikant verminderte Dauer und Intensität der Morgensteifigkeit gemessen werden. Es konnten jedoch keine Gruppenunterschiede betreffend krankheitsbedingten funktionellen Einschränkungen, Beweglichkeit und Schmerzen in der Wirbelsäule und in den Gelenken beobachtet werden. [8] Die Autoren beider Studien heben die vielversprechenden Befunde hervor, welche eine Verminderung der Krankheitsaktivität durch Taiji und Qigong nahelegen. Kritisch zu beachten sind jedoch methodische Einschränkungen bei beiden Studien wie zum Beispiel die kleine Stichprobengrösse, das Fehlen von biometrischen Messwerten und die relativ kurze Interventionsdauer. Um aus wissenschaftlicher Sicht klarere Aussagen über die Wirksamkeit von Taiji und Qigong bei Morbus Bechterew Patienten machen zu können, bedarf es umfangreicherer, methodisch elaborierterer Forschungsarbeiten vorzugsweise mit Langzeitverlaufsmessungen. Wer nicht auf diese warten mag und stattdessen eigene erste Erfahrungen mit Taiji und / oder Qigong machen möchte, findet auf der Webseite der Schweizerischen Gesellschaft für Qigong und Taijiquan (SGQT) www.sgqt.ch Adressen der vom Berufsverband anerkannten und in der Schweiz tätigen Lehrpersonen für Taiji und Qigong. Einen ersten praktischen Eindruck kann auch die nachfolgend beschriebene Grundlagenübung vermitteln, welcher man sowohl in einer Qigong- als auch in einer Taiji-Stunde begegnen kann.

Von der Theorie zur Praxis – Die Schalenübung 

Bei dieser Grundlagenübung stehen wir in einem schulterbreiten Parallelstand. Wir stellen uns vor, dass wir in einem Handteller eine Reisschale haben (Abb. 1) und diese so kreisen, dass deren Inhalt nicht ausgeschüttet wird (Abb. 1 – Abb. 8). Wir führen die Schale unter der Achselhöhle vorbei (Abb. 2) seitlich nach aussen (Abb. 3) und winden sie spiralig nach vorne aufwärts (Abb. 4). Oben kreist die Schale einmal um den Kopf (Abb. 4 – Abb. 6). Dann lassen wir sie durch ein entspanntes Setzenlassen des Schulter- und Ellenbogengelenkes wieder spiralig nach unten zurück in die Ausgangsposition gleiten (Abb. 5 – Abb. 8). Pro Seite ca. 10 bis 20 mal kreisen.

Hinweis: Die vertikale Drehachse durch unsere Körpermitte bleibt möglichst gerade und zentriert – so als ob auf unserem Kopf eine weitere Schale liegen würde. Rumpf und Schultern lassen sich während der ganzen Übung möglichst locker und entspannt vom Becken tragen. So wird der Oberkörper für den durch das Becken hochsteigenden Bewegungsfluss immer durchlässiger.

Varianten: a) Die Schale anstatt über dem Kopf nur vor der Brust kreisen lassen; b) Die Schalenübung beidhändig ausführen und abwechselnd mal die rechte, mal die linke Hand kreisen lassen oder c) mit beiden Händen gleichzeitig ausführen; d) die Schalenübung auf einem Bein stehend ausführen; e) die Schalenübung beim langsamen Gehen ausführen; f) alle Variationen mit rückläufigen oder auch gegenläufigen Armbewegungen ausführen; g) kreativ sein und eigene Variationen erfinden … der Rumpf bleibt jedoch immer über dem Becken möglichst entspannt, zentriert und vertikal ausgerichtet.

 

Quellenverzeichnis

  1. Li, Y. & Rigter, K. (2004). Taijiquan, Qigong und Morbus Bechterew. Vertical, 19, 4-8.
  2. Klein, P. J., Baumgarden, J. & Schneider, R. (2019). Qigong and Tai Chi as therapeutic exercise: Survey of systematic reviews and meta-analyses addressing physical health conditions. Alternative Therapies, 25 (5), 48-53.
  3. Easwaran, K. et al. (2020). Effectiveness of Tai Chi for health promotion for adults with health conditions: A scoping review of meta-analyses. Disability and Rehabilitation, doi:10.1080/09638288.2020.1725916.
  4. Nedeljkovic, M. & Gemperli-Link, B. (2020). Welchen Beitrag können die Chinesischen Bewegungskünste Qigong und Taijiquan zur Gesundheitsförderung leisten? Informationsdokument abrufbar unter www.sgqt.ch.
  5. Wayne, P. M. & Kaptchuk, T. J. (2008). Challenges inherent to T’ai Chi research: part I – T’ai Chi as a complex multicomponent intervention. Journal of Alternative and Complementary Medicine, 14, 95- 102.
  6. Koh, T. C. (1982). Tai Chi and ankylosing spondylitis – a personal experience. American Journal of Chinese Medicine, 10, 59-61.
  7. Lee, E. N. et al. (2008). Tai Chi for disease activity and flexibility in patients with ankylosing spondylitis – a controlled clinical trial. Evidence Based Complementary and Alternative Medicine, 5 (4), 457-462.
  8. Xie, Y. et al. (2019). A 12-week Baduanjin Qigong exercise improves symptoms of ankylosing spondylitis: A randomized controlled trial. Complementary Therapies in Clinical Practice, 36, 113-119.

 

Über den Autor

Dr. phil. Marko Nedeljković hat an der Universität Zürich klinische Psychologie und Sinologie studiert und an der Universität Bern zum Thema „Taiji und Stressprotektion“ promoviert. Seit über 20 Jahren übt er Taiji und Qigong aus und ist ein von der Schweizerischen Gesellschaft für Taiji und Qigong (SGQT) anerkannter Taiji Ausbildner und Qigong Lehrer. Für ihn sind diese beiden Bewegungskünste zu einem wunderbaren Weg zur Kultivierung von innerer Kraft, Klarheit und Ausgeglichenheit geworden, den er mit viel Freude und grosser Sorgfalt mit allen an gesunder Bewegung interessierten Menschen teilt. Er unterrichtet in verschiedenen Institutionen im Gesundheits- und Bildungswesen und bietet auch eigene Kurse und Weiterbildungsseminare in Baden, Brugg und in den Bergen an. Weitere Informationen sind seiner Webseite www.space2be.ch zu entnehmen.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.